19
Dez
2014

Nachts..

In den nächsten 4 bis 5 Tagen wird sich entscheiden, ob meine Mutter ab sofort ein Pflegefall sein wird oder nicht.
Ich denke immer noch "scheisse, dass ist nicht echt.." Vor zwei Wochen war ich noch mit ihr einkaufen, sie hat ihren Haushalt ganz alleine erledigt, war ein selbständig denkender und handelnder Mensch, wenn auch körperlich nicht mehr so fit.

Und jetzt? Jetzt liegt sie mehr oder weniger da, wie eine Hülle..sie kann sich zwar einigermassen deutlich artikulieren, aber von Selbständigkeit ist nichts mehr wahrzunehmen und die Denkstruktur ist ohne jedweden Zusammenhang..ich rede mit ihr, wie mit einem Kind, wurde auch manchmal etwas ungehaltender ihr gegenüber, was mir sehr schnell leid tat. Muss sie immer wieder ermahnen zu trinken, das würde sie jetzt einfach vergessem..ach scheisse....Ich versuche mit dieser momentanen Hilflosigkeit umzugehen, es ist einfach unwirklich..bis vor wenigen Tagen war sie noch meine Mutter, die über ihre Arthritis klagte, sich mit der Nachabrin über den neuesten Klatsch austauschte, ihren Haushalt erledigte..Und jetzt ist sie eine Art sprechender Zombie..scheisse, scheisse, scheisse...

Der Moment vorgestern, als sie zuerst grunzende Laute von sich gab am Frühstückstisch, dann zusammensackte und die Atmung einstellte kommt mir immer wieder als Trailer ins Gehirn..in diesem Moment stand alles um uns herum still, wie ein Standbild.. schrie einfach immer wieder "Mama, Mama bleib hier.."..dann drisch ich auf sie ein, als die Atmung aussetzte, dabei liefen die vergangene Highlights aus meiner Kindheit, die ich mit ihr erlebt hatte, vor meinem inneren Auge..es ist wohl der gleiche Film, den Passagiere eines abstürzenden Flugzeugs nochmal sehen..Diese einminütige Atemaussetzung war so unendlich lange..Dann endlich, röchelte sie wieder..Erleichterung..Notarzt..Klinik..sieben Stunden warten, bis zu ersten Vorabdiagnose, Hirnschlag..Dienstag noch selbständig gehend, ab Mittwoch vormittag nur noch Hülle..

Die Krebserkrankung meines Vaters war zumindest so gnädig, uns 15 Monate lang darauf einzustellen, dass er geht..
Okay meine Mutter ist zwar noch hier, aber doch irgendwie nicht mehr, zumindest im Moment, aber das geht alles so schnell diesmal....Ist man dann überhaupt noch Kind, wenn beide Eltern nicht mehr da sind, oder zumindest nicht mehr so sind, wie man sie mal kannte..Auch wenn ich für meine Mutter da bin und mich um sie kümmere, so gut es geht, habe ich heute den Besuch bei ihr sehr weit in den Nachmittag verschoben..Ich war froh, dass ich genügend Arbeit im Büro hatte, aber dann ab 15 Uhr gab es einfach nichts mehr zu erledigen, nach Hause fahren, das konnte ich dann auch nicht, hätte mich schäbig und auf der Flucht gefühlt, auch wenn mir bewusst ist, dass solche Momente des Rückzugs zwischendurch einfach sein müssen..

Aber es war trotzdem irgendwie bizarr: ich nahm extra einen grösseren Umweg in die Klinik, fuhr vor jeder Ampel sehr langsam ( hupende Autos hinter mir waren mir scheissegal ) um jede Rotphase mitzunehmen..ich wollte einfach nicht so schnell dort sein..fuhr dann auch dreimal um den Parkplatz, obwohl der Behindertenparkplatz direkt am Haus von weitem sichtbar, frei war..In der Klinik liess ich dann zwei Leute vor am Lift ( Lastenaufzug..) ..und dann stand ich vor der Zimmertür, atmete tief durch und hoffte beim Öffnen auf eine wundersame Wandlung der Situation, zusammen mit einem fröhlichen "Ach, da ist ja mein Kind.."..aber hinter der Tür stand die Realität, angelehnt an die Schrankwand mit den Worten "Bin ich Jesus, oder was? Wächst mir Gras aus den Taschen? Komm schon, das glaubst Du doch wohl selber nicht.."

Stimmt!....wär aber schön gewesen..

Irgendwie ist es merkwürdig, wie mein Geist funktioniert, ich empfinde den 17. Dezember als meine Version des 11. Septembers..alles, was an Problemen, Ereignissen, Streitigkeiten, Missverständnissen, oder natürlich auch schönen Dingen davor war, sind zwar nicht vergessen, aber sehr weit in den Hintergrund gerückt und nicht wirklich wichtig..Die vertraute Unbekümmertheit ist weg..Es fühlt sich so an, als würde irgendwas in mir sich auf Werkseinstellung zurücksetzen..

Prioritäten ordnen, neu setzen, die neue Situation wie ein 1.000 Teile Puzzle entgegennehmen und zumindest mal anfangen, die Randstücke rauszusuchen und zusammenzusetzen, auch wenn ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nicht weiss, wie es weitergeht..klar, dass weiss eh niemand..und sollte sich der Zustand meiner Mutter nicht mehr verbessern, stehen in den nächsten Tagen ohnehin erst mal Klinik- und Behördengänge an, um die Pflege meiner Mutter irgendwie zu sichern. Damit bin ich dann erstmal beschäftigt..Nachdenken über die gegenwärtige Situation will ich jetzt eh nicht soviel..Ich hab mich früher immer gefragt, gibt das Leben Dir einen Sinn, oder gibst Du dem Leben einen?..Momentan ist es bei mir Ersteres bei mir...


Ich bin aber auch zum Glück nicht wirklich alleine, ich habe liebe Menschen um mich herum, die mir ihre Hilfe anbieten, von aktiver Hilfe, bis hin zu Kerze anzünden und gedanklich unterstützen, all das tut so unendlich gut..Und als ich in meinem letzten Eintrag darüber geschrieben habe, dass ich mir manchmal einen Präsentkorb von ihm da oben als Anerkennung gewünscht hätte..diesmal ist es zwar kein grosser Korb, aber zumindest einen "Gutschein": meine beste Freundin hat mich und noch ein paar andere Freunde für Heiligabend eingeladen, es gibt diese "wohl urtypisch" deutsche Spezialität: Würstchen und Kartoffelsalat..Fand ich früher immer merkwürdig..Freue mich aber sehr drauf..Danke für den Gutschein..


Ich bin zwar noch nicht soweit, wie Nina Ruge an jedem Ende ihres Lifestyle Magazins zu sagen: "Alles wird gut", aber zumindest ist ein "Es wird schon irgendwie weitergehen" wieder im Raum..

Liegt vielleicht auch an der Tatsache, dass ich heute abend zum ersten Mal weinen konnte..Es kam ganz plötzlich, ich war gerade dabei, die zweite Waschladung meiner Mum vorzubereiten, da sie sich im Moment sehr oft übergibt und daher mehrmals am Tag die Kleidung wechseln lassen muss.

Und als ich den Pullover in die Hand nahm, den ich ihr am Mittwoch morgen anzog, kurz vor dem Anfall , ging es los..so intensiv habe ich schon lange nicht mehr weinen können, es war wie damals, als ich Kind war, manchmal sehr laut, flehend, anklagend, tief traurig..habe alles stehen und liegenlassen und legte mich ins Bett, Decke über den Kopf, den Pullover noch in der Hand und dann fest an mich gedrückt, an einige 70er und 80er Jahre Heiligabende gedacht, in denen zunächst immer kurz vor der Bescherung eine ziemlich kratzige LP der Wiener Sängerknaben abgespielt wurde, die bei "Oh Du fröhliche" zwei, drei "Ohs" hinzufügten, weil die Nadel hüpfte.

.,das wurde dann durch mein Flötenspiel abgelöst, welches meine Schwester mit Buh-Rufen kommentierte, weil sie die Geschenke auspacken wollte, aber zumindest begleitete mich der Dackel meiner Grossmutter und übernahm die erste Stimme..dann hörte dieser Film wieder auf...

....Es war alles da, Angst, Wut, zurückgelassen werden, Ungewissheit, Freude, Wehmut..liess mich einfach gehen..Ich kann jetzt noch nicht sagen, dass es befreiend war, aber ich empfand es so, als würde mich ein Boxtrainer vor der Waschmaschine bei der Hand packen, mich in die eigene Ringecke setzen, das Pflaster, welches ich seelisch die letzten Tage vehement festhielt, abrreisen und sagen "Lass es einfach laufen..ist wichtig, sei verdammt nochmal Mensch..."

Ja, ich denke, das bin ich..egal was noch passieren wird..es wird gehen...irgendwie...schrob die Rollstuhlfahrerin..

Gute Nacht..

Ich habe zwar schon einige Nachträge gemacht, aber dieser hier ist besonders wichtig, grade auch für mich, und zwar wenn jetzt Momente kommen werden, in denen es mir nicht bewusst ist..;

egal, wer da nun im Klinikbett liegt, ich habe diese Person immer noch sehr lieb, weil sie einfach meine Mutter ist...die 42 Jahre einen tollen Job bei mir gemacht hat..
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